Minimum

Andreas Petersell am 05.08.2019

Alle haben wir es geahnt. Jetzt hat es Schirrmacher unausweichlich für die Zweifler fixiert.

1974 diagnostizierte der sozialistische Historiker Harry Bravermann, was unzählige andere auch empfanden: Die Bevölkerung verlässt sich nicht mehr auf soziale Organisationsformen in Gestalt von Famile, Freunden, Nachbarn, Gemeinschaft, Älteren und Kindern, sondern bedient sich des Marktes nicht nur für Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern auch für Erholung, Unterhaltung, Sicherheit, für die Betreuung der Jungen, der Alten, der Kranken, der Behinderten.

Die große Chance liegt darin, zu erkennen, dass das, was die Gemeinschaft im Innersten zusammenhält, nicht vom Markt, aber auch nicht vom Staat organisiert werden kann: jene Handlungen, für die Eltern und Kinder kein Geld und keine Anerkennung bekommen, die so selbstverständlich sind, dass es keine Orden gibt und keine Sozialversicherung - Selbstverständlichkeiten, die nun, da sie zum verknappenden Gut zu werden drohen, einen hohen Preis kosten.

— Frank Schirrmacher: Minimum
München 2006 (S. 162)